Selbsthilfe
Wie äußert sich ein psychisches Trauma?
Viele Betroffene stellen bei sich, oft zum ersten mal in ihrem Leben, ganz ungewöhnliche Erlebnisweisen fest, wie schwere Verwirrtheit oder automatisch wiederkehrende Erinnerungsbilder und bekommen Angst, „verrückt zu werden“. In Wirklichkeit handelt es sich dabei um eine ganz normale Reaktion auf die oft vollkommen „verrückte“ und unnormale Situation, die sie erlebt haben.
Unsere Seele besitzt jedoch, ähnlich wie unser Körper, starke Kräfte zur Selbstheilung. Diese können wir gezielt unterstützen, wenn wir uns mit dem natürlichen Traumaverlauf vertraut machen. Dieser vollzieht sich in drei Phasen: Schockphase, Einwirkungsphase des Traumas und Erholungsphase.
Schockphase
Verwirrtheit, Unfähigkeit, sich an wichtige Daten zu erinnern, z.B. an die eigene Telefon- oder Hausnummer – dies alles sind Merkmale der Schockphase, die von einer Stunde bis hin zu einer Woche dauern kann.
Im akuten Schockzustand ist die Hautfarbe bleich, die Atmung schnell und flach, die Betroffenen haben einen benommenen Blick, manchmal glauben sie, sich an einem anderen Ort zu befinden. Hier sind Maßnahmen zur Beruhigung und Kreislaufstabilisierung angezeigt. Generell gilt:
Medizinisch notwendige Maßnahmen haben Vorrang vor der psychologischen Ersten Hilfe. Normalerweise besteht hier jedoch ein Ergänzungsverhältnis.
Einwirkungsphase
Daran schließt sich die Einwirkungsphase des Traumas an. Sie kann bis zu zwei Wochen anhalten. Jetzt ist die stärkste Erregung zwar abgeklungen, die Betroffenen sind jedoch von den Ereignissen innerlich völlig in Anspruch genommen. Immer wieder müssen sie, wie unter Zwang, von den Vorfällen berichten. Starke Selbstzweifel treten auf, häufig auch Depressionen sowie Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht.
Auch bei Menschen, die zuvor eher optimistisch waren, erscheinen alle positiven Möglichkeiten des Lebens wie in weiter Ferne. Stattdessen klagen sich viele an wegen eigener Fehler.
Im Wechsel damit können Wutanfälle und heftige Anklagen gegen mögliche Verursacher auftreten, seien diese Klagen nun berechtigt oder nicht. Oft treten in dieser Zeit Einschlafstörungen auf, Übererregbarkeit, Überwachheit, erhöhte Schreckhaftigkeit, Gedächtnisstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Alpträume und Nachhallerinnerungen vom traumatischen Ereignis.
Wenn Todesfälle, insbesondere in der eigenen Familie, zu beklagen sind, erleben manche Überlebende eine schwere Depression und machen sich Vorwürfe, überlebt zu haben (sog. „Überlebensschuld“).
Erholungsphase
Daran schließt sich die Einwirkungsphase des Traumas an. Sie kann bis zu Nach 14 Tagen, manchmal erst nach vier Wochen beginnen sich einige Betroffene vom Trauma zu erholen. Kommen weitere erschreckende Nachrichten oder belastende Lebensumstände hinzu, so verzögert sich die Erholungsphase und kann sogar gänzlich ausbleiben. Günstigenfalls sinkt jetzt auch die Dauererregung ab. Nicht jeder Gedanke an das traumatische Geschehen löst wieder den vollen Schrecken aus.
Das Interesse am normalen Leben, an anderen Personen kehrt wieder. Die Zukunftspläne werden positiver gesehen. Noch immer ist das traumatische Ereignis von zentraler Bedeutung.
Es kann noch lange dauern, bis unsere Sicht der Welt und unser Verständnis von uns selbst so umgearbeitet sind, dass die traumatischen Vorfälle darin einbezogen werden können. Für viele bildet das Trauma einen Anlass, über das bisherige Leben gründlich nachzudenken und ihre Zukunftsplanung zu überdenken.
Aber für all diese Schritte müssen Energien frei sein. Sie werden nicht mehr von den traumatischen Vorfällen aufgesogen, wenn sich die Erholungsphase ankündigt.
Was tun, wenn die Erholungsphase ausbleibt?
Nicht wenige Betroffene erholen sich nicht so rasch von der traumatischen Belastung. Das kann daran liegen, dass sie besonders schwerwiegende körperliche und/oder seelische Verletzungen erlitten haben. Ein genauer Zeitplan für Heilung lässt sich bei seelischen Verletzungen ebenso wenig festlegen wie bei einer körperlichen Verwundung.
Halten die Folgen des Traumas länger als einen Monat an, so tritt häufig ein Zustand ein, der durch folgendes Erscheinungsbild gekennzeichnet ist:
- Ausgangspunkt ist ein belastendes Ereignis, das in einem Zustand der objektiven oder subjektiven Hilflosigkeit erfahren wurde. Ähnlich können belastende Lebensumstände wirken, die über einen längeren Zeitraum hinweg bestanden.
- Wiederkehrende, plötzliche Erinnerungen an das Ereignis, z.B. in Alpträumen oder in sog. „flash-backs“, in „Nachhallerinnerungen“, in denen, wie in einem Horrorfilm, Szenen vom traumatischen Geschehen ständig wiederkehren. Manchmal tauchen auch nur Bruchstücke auf, wie Gerüche, Geräusche oder Körperempfindungen, die mit den Vorfällen anscheinend in keinem Zusammenhang stehen.
- Vermeiden von allem, was an das Trauma erinnert oder erinnern könnte, so z.B. ängstliches Vermeidung von Zügen und Straßenbahnen, wenn ein Zugunglück das Trauma verursacht hat oder auch schon das Reden über Züge, Straßenbahnen oder andere Verkehrsmittel. Die ängstliche Vermeidungshaltung kann sich mit der Zeit immer weiter ausbreiten.
- Eine gesteigerte Erregbarkeit und Schreckhaftigkeit. Die Betroffenen können keine Ruhe finden und schrecken zusammen bei allen ungewöhnlichen Vorkommnissen, nicht nur bei solchen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen. Das autonome Nervensystem, das die vitalen Überlebensfunktionen beim Menschen regelt, befindet sich in ständiger Alarmbereitschaft. Es ist, als wenn ein Motor auf Hochtouren läuft, ohne dass ein Weg zurückgelegt wird.
Diese Merkmale bilden zusammen ein Störungsbild, das wir als psycho- oder posttraumatisches Belastungssyndrom (PTBS) bezeichnen.
Unmittelbar nach einem traumatischen Ereignis finden sich diese und andere Beschwerden, wie schwere Depressionen und Selbstzweifel oder überwältigende Wut bei den meisten Betroffenen. Hier sprechen wir noch nicht von einem PTBS. Wer aus einer großen Gefahr nur knapp davon gekommen ist, spürt auch nach der Rettung noch einen Erregungszustand am ganzen Körper. Die Knie zittern, viele spüren ein Zittern auch im Kiefergelenk und in der Beckenregion. Dies kennzeichnet sowohl die Schockphase wie auch Einwirkungsphase des Traumas. Bleibt die Erholung jedoch dauerhaft aus, so besteht ein erhöhtes Risiko für negative Langzeitfolgen. Wenn also länger als vier Wochen
- Nachhallerinnerungen und Alpträume fortbestehen
- Wenn die Angst vor allem, was an das Ereignis erinnert, fortwirkt oder sich noch weiter ausbreitet
- Wenn die gesteigerte Erregbarkeit fortbesteht und Sie sich nicht beruhigen können
dann sollten Sie fachliche Hilfe bei einem psychotraumatologisch vorgebildeten Fachberater oder Psychotherapeuten in Erwägung ziehen. Sie können auch selbst Hilfsmassnahmen und Übungen durchführen, die Sie in der ausführlichen Selbsthilfebroschüre NEUE WEGE AUS DEM TRAUMA finden, um Ihren natürlichen Selbstheilungsprozess weiter zu unterstützen oder wieder in Gang zu bringen. Oft hilft auch das weiter. In einigen Fällen ist Psychotherapie jedoch unbedingt zu empfehlen. Sie muss bei weitem nicht so aufwendig sein, wie oft befürchtet wird.
Info: Traumatherapie
Eine Studie an der Universität Köln hat ergeben, dass Personen, die ein schweres Trauma erlitten haben und zur Risikogruppe für Langzeitfolgen im Sinne des PTBS gehören, in durchschnittlich nur 10 therapeutischen Sitzungen dauerhaft stabilisiert und geheilt werden können mit einem Therapieverfahren, das als Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie (MPTT) bezeichnet wird. Es handelt sich um ein Verfahren, das Verhaltenstherapie und tiefenpsychologische Prinzipien miteinander verbindet.
Es unterstützt gezielt den natürlichen Selbstheilungsprozess nach Traumata und beseitigt seine Hindernisse. Manche Techniken aus der MPTT lassen sich auch im Selbstversuch anwenden. Den langjährigen Erfahrungen mit diesem wissenschaftlich erprobten Verfahren entstammen auch die Tipps zur Selbsthilfe, die hier in Kurzform, ausführlicher in Neue Wege aus dem Trauma, gegeben werden.
Welche Ereignisse ziehen gehäuft negative Langzeitfolgen nach sich?
Die folgende Aufzählung können Sie nach Art einer „Checkliste“ verwenden, um bei sich oder bei Ihren Bekannten und Freunden näher hinzuschauen:
- Gefahr für Leib und Leben oder subjektiv erlebte Lebensbedrohung
- Schwere körperliche Verletzung
- Absichtsvoll verletzt oder geschädigt worden zu sein
- Konfrontation mit entstellten oder verstümmelten menschlichen Körpern
- Plötzlicher oder gewaltsamer Tod einer geliebten Person
- Zusehen oder davon erfahren, dass einer uns nahestehenden Person Gewalt angetan wurde
- Einem Giftstoff oder Infekt ausgesetzt sein bzw. hiervon erfahren
- Tod oder schwere Verletzung eines anderen Menschen verursacht zu haben
Der zuletzt genannte Vorfall wird in seiner Brisanz oft verkannt. Wer den Tod eines anderen Menschen, zum Beispiel bei einem Verkehrsunfall verursacht hat, wird von anderen oft wie ein Täter behandelt. Dabei neigt er sich selbst gegenüber schon zu heftigen Vorwürfen, Solche Einflüsse können sich leicht zu einer „Negativspirale“ verbinden, die in ein „psychotraumatisches Belastungssyndrom“ mündet.