Selbsthilfe
Kindern mit einem Trauma helfen
Diese Informationen sind für Eltern bestimmt, deren Kinder von belastenden Erlebnissen betroffen sind oder die einer belastenden Maßnahme entgegensehen, wie zum Beispiel einer Operation. Natürlich können sie auch für Lehrer, Erzieher oder andere Erwachsene von Interesse sein, denen Kinder anvertraut sind oder die mit ihnen in näherem Kontakt stehen. Wenn Sie sich in der Auseinandersetzung mit einer eigenen traumatischen Erfahrung befinden und dies alles nicht auf Sie zutrifft, überspringen Sie diesen Abschnitt einfach. Für Sie geht es zunächst darum, die eigene Ruhe und Balance wiederzufinden.
Informationen über Trauma bei Kindern könnten Sie noch zusätzlich beunruhigen. Wenn Sie Interesse haben, können Sie zu einem späteren Zeitpunkt das Kapitel lesen. Falls Sie eigene Kinder haben, nehmen Sie aber bitte in jedem Falle unseren Tipp in diesem Abschnitt zur Kenntnis.
Wir wissen heute, dass Traumatisierung im Kindesalter in aller Regel schwerwiegende Kurz- und Langzeitfolgen nach sich zieht. Die wichtigsten ähneln dem psychotraumatischen Belastungssyndrom bei Erwachsenen. Vier Merkmale lassen sich unterscheiden:
- Wiederkehrende, sich aufdrängende Erinnerungen
- Sich ständig wiederholende Verhaltensweisen. Im „traumatischen Spiel“ wiederholen Kinder beständig das traumatische Ereignis. Die Kinder haben oft kein Bewusstsein von dem Zusammenhang zwischen Spiel und Ereignis
- Ängste. Diese richten sich auf die traumatische Situation und tauchen immer wieder auf, wenn etwas an das Trauma erinnert
- Veränderte Einstellung zu Menschen, zum Leben und zur Zukunft. Verlust des Vertrauens und negative Erwartungen an das Leben
Nicht alle Kinder sprechen über belastende Erlebnisse. Sie zeigen jedoch nach dem Trauma Verhaltensweisen, die vorher nicht zu beobachten waren. Viele wirken deprimiert und teilnahmslos, oder werden übertrieben aktiv („hyperaktiv“) und tyrannisch. Nachdem sie der unkontrollierbaren Situation des Traumas ausgeliefert waren, streben sie jetzt danach, in ihrer Umgebung alles unter Kontrolle zu halten und zu „kommandieren“, sogar ihre Eltern. Hieraus können sich weitere Komplikationen und Konflikte ergeben, die zum Trauma dann noch hinzukommen.
Traumata werden bei Kindern einmal durch ähnliche Ereignisse verursacht, wie bei Erwachsenen auch. Durch Unfälle, Katastrophen, Kriegserfahrungen, Gewalterfahrung, plötzlichen Tod von Angehörigen usf. Zudem durch gewalttätige, psychisch kranke und/oder alkoholabhängige Eltern. Besonders verletzbar sind Kinder durch längere Trennungen von ihren vertrauten Bezugspersonen und von ihrer vertrauten Umgebung.
Je jünger sie sind, desto stärker. Und schließlich durch medizinische Eingriffe. Nicht selten trifft bei medizinischen Maßnahmen beides zusammen. Das Kind wird von seinen Eltern getrennt und wird einer Maßnahme unterzogen, die es nicht versteht.
Etwa 50% der Kinderkliniken haben jedoch offene Besuchszeiten und sind räumlich darauf vorbereitet, die Eltern mit den Kindern zusammen über Nacht aufzunehmen. Dieses Angebot senkt die Anfälligkeit des Kindes für eine seelische Verletzung erheblich.
Durch die Gegenwart der Eltern fühlt es sich in der fremden Umgebung beschützt und kann die medizinische Behandlung leichter ertragen. Auf eine medizinische Behandlung muß das Kind in geeigneter Weise vorbereitet werden, so zum Beispiel auf eine Operation.
Dies geschieht bei Kindern im Vorschulalter am besten so, dass die Behandlung dem Kind in seiner Sprache verständlich gemacht und zudem noch mit Puppen durchgespielt wird. Oft übernehmen die Kinder dann eine aktive Rolle. Sie wollen selbst den Doktor spielen, der dem Kind die Spritze gibt. Sogar eine Operation wirkt weniger bedrohlich, wenn das Kind selbst den Arzt spielt, der sie durchführt. Die bedrohlichen Seiten sollten eher als Routinevorgang dargestellt werden.
Der Bauch wird nicht „aufgeschnitten“, sondern die Haut so weit geöffnet, dass das „Wehweh“ entfernt oder der Knochen repariert werden kann, damit er nachher umso stärker ist. Die Wunde verheilt schnell wieder, so wie es das Kind bei leichteren Verletzungen schon öfters erlebt hat. Die Narkose macht einen angenehmen, „blauen Traum“. Die Eltern sind in der Nähe. Falls die Behandlung Ihres Kindes wesentlich anders verlaufen sollte als hier beschrieben, zögern Sie nicht, Ärzten und Pflegepersonal Ihre Informationen zur Verfügung zu stellen und Ihr Anliegen zu erläutern.
Haben Sie schon einmal beobachtet, woran ein junger Hund Gefahren erkennt? Wenn etwas Ungewöhnliches geschieht, schaut er zunächst verblüfft, „wufft“ vielleicht und schaut seine Hundemutter oder seinen Hundevater an. Wenn diese nicht beunruhigt sind, ist alles in Ordnung. Das Spielen geht weiter. Ähnlich orientieren sich Kinder an der Reaktion ihrer Eltern.
Es ist daher sehr wichtig, dass Sie selbst sich zuerst beruhigen, wenn Sie Ihr Kind beruhigen wollen. Das ist nicht leicht, wenn ein Unglück überraschend kam. Vielleicht hilft Ihnen eine der Beruhigungs- oder Distanzierungsübungen aus dieser Informationsschrift. Andernfalls tun Sie, was immer Sie beruhigen kann.
Info: Vermeidung kindlicher Trennungsschäden
- Es ist günstig, wenn sich mehrere vertraute Personen schon früh an der Pflege des Kindes beteiligen, zum Beispiel der Vater. Dann steht immer eine vertraute Ersatzperson zur Verfügung.
- Kinder unter einem Jahr sollten nicht zur Fremdbetreuung weggegeben werden. Ab einem Jahr nur dann, wenn eine sehr individuelle Betreuung des Kindes durch eine vertraute Person, zum Beispiel eine Tagesmutter möglich ist. Nach diesem Gesichtspunkt sollte auch eine Kinderkrippe ausgewählt bzw. gestaltet werden.
- Bei einem Krankenhausaufenthalt des Kindes sollten die Eltern das Kind täglich besuchen und sich bei medizinischen Maßnahmen an der Betreuung und Vorbereitung des Kindes beteiligen.
- Medizinische Maßnahmen sollten nur dann durchgeführt werden, wenn das Kind ruhig ist und sich in Sicherheit fühlt.
- Kinderheime und stationäre Einrichtungen sollten so organisiert sein, dass sie dem Bedürfnis des Kindes nach dauerhaften Bezugspersonen Rechnung tragen.
- Bei frühem Tod einer Bezugsperson muss das Kind einfühlsam auf die Todesnachricht vorbereitet werden.
Unser Tipp – mit Kindern sprechen
Wenn Sie selbst ein erschütterndes Erlebnis hatten, prüfen Sie, ob Sie mit Ihrem Kind darüber sprechen wollen. Falls Sie sich dazu entschieden haben, wählen Sie möglichst einen Zeitpunkt, an dem es Ihnen gelungen ist, sich zu beruhigen und zu einer gewissen inneren Balance zurückzufinden. Am günstigsten ist es, wenn Sie auch Ihre Hoffnung auf ein neues Leben nach dem Trauma Ihrem Kind zumindest ansatzweise mitteilen können. Natürlich ist es nicht sinnvoll, Ihr Kind mit grässlichen Einzelheiten zu belasten. Kinder haben ein sehr gutes Gespür für ihre Eltern und verstehen deren Gemütsverfassung und Erfahrungen auch ohne allzu viele Worte.
Andererseits sind Kinder sehr beunruhigt, wenn sie die Erschütterung ihrer Eltern spüren, aber keinerlei Erklärung dafür bekommen. Diesen Gesichtspunkt sollten Sie in Ihre Überlegungen, ob Sie mit Ihrem Kind über Ihre Erfahrungen sprechen wollen, ebenfalls einbeziehen. Auf Trennungen, die notwendig werden, können wir das Kind vorbereiten. Ihm erklären, wo es sich befinden wird, wo die Mutter oder der Vater sind und wann sie zurückkommen.
Dabei ist meist eine Art „Trennungstraining“ erforderlich, beginnend mit nur kurzen Zeiträumen. Hat das Kind gelernt, die Zeit der Trennung zu überbrücken und hat es die Sicherheit erworben, dass es auch von einer anderen Person gut betreut werden kann, dann können allmählich auch längere Zeiträume ertragen werden. Solch ein „Training“ kann die Entwicklung des Kindes sogar fördern. Bei einer plötzlichen, abrupten Trennung ohne Zeitperspektive verfallen Kinder zunächst in starke Beunruhigung, ja in panische Angst.
Darauf folgt oft teilnahmsloser Rückzug auf sich selbst. Erwachsene, die keine guten Kinderbeobachter sind, verwechseln die Teilnahmslosigkeit des Kindes und seine Hoffnungslosigkeit mit wirklicher Eingewöhnung und erfolgreicher Anpassung an die neue Situation.
Weshalb bereitet Kindern die Trennung von den vertrauten Bezugspersonen derartige Ängste? Das menschliche „Bindungssystem“, die Bindung, die sich seit Lebensbeginn zwischen Mutter und Kind aufbaut, funktioniert ganz ähnlich wie bei unseren nächsten Verwandten aus dem Tierreich, den sogenannten Primaten. Stellen Sie sich ein kleines Äffchen vor, dessen Eltern sich außer Sichtweite befinden. Selbst wenn es schon gewandt klettern kann, wird es leicht zu einer attraktiven Beute für Raubtiere aller Art.
Es stößt einen Angstschrei aus und ist sehr beunruhigt, wenn es nicht augenblicklich die Eltern erreichen kann. Das „Urhirn“ unserer Kinder reagiert nun genau wie beim Äffchen in seiner natürlichen Umgebung, aufgrund einer Entwicklung von Jahrmillionen. Es registriert nicht, dass sich das Kind in einem geschlossenen Zimmer befindet, wo Raubtiere und andere natürliche Feinde des Menschen keinen Zutritt haben. In der „natürlichen Umgebung“ des Menschen, im Wald, in der Savanne, besteht eine lebensbedrohliche Situation, wenn auf den Angstschrei des Kindes hin nicht alsbald Mutter oder Vater auftauchen. Panik und Schreien „aus Leibeskräften“ sind die natürlichen, angemessenen Reaktionen.
Aus dieser Hilflosigkeit des Kindes heraus kann das Trauma entstehen, kindliche Resignation und eine Haltung „gelernter Hilflosigkeit“: das Kind hat „gelernt“, dass es in einer Situation panischer Angst und Bedrohung allein gelassen wird.
Sein Vertrauen in die Eltern wurde schwer erschüttert. Diese Erfahrung kann sich später auf andere Menschen übertragen. In früheren Zeiten rieten die Kinderärzte den Müttern, ihr Kind nachts „durchschreien“ zu lassen. Das sollte die „Lungen stärken“ und einer verwöhnten Ansprüchlichkeit des Kindes vorbeugen.
Befolgen Sie solche „Ratschläge“ nicht, falls diese auch heute noch an Sie heran getragen werden sollten. Üben Sie mit Ihrem Kind ein schrittweises „Trennungstraining“. Für Erwachsene ist es nur schwer nachvollziehbar, welche Verwüstung „Durchschreien“ und hilfloses, ermattetes Einschlafen in dem kleinen, verlassenen „Äffchen“ anrichten kann.
Die Langzeitfolgen übermäßiger Trennungserfahrungen für das Kind und den späteren Erwachsenen sind erheblich. Wir sprechen hier in der Forschung von sogenannten „Deprivationsschäden“ (von lateinisch „deprivare“, was soviel bedeutet wie „von der notwendigen Unterstützung abgeschnitten sein“). Die häufigste Folge ist eine Neigung zu depressiven Reaktionen, die manchmal sogar lebenslang fortbestehen kann. Es gibt einige bewährte Regeln, nach denen Sie Deprivationsschäden bei Ihrem Kind vermeiden können.
Können kindliche Traumata wieder ausgeglichen werden?
Ja, dies ist die gute Nachricht. Grundsätzlich in ähnlicher Weise, wie Sie es in dieser Aufklärungsschrift für Traumata bei Erwachsenen kennengelernt haben. Unterstützen Sie alles, was das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit bei Ihrem Kind wieder herstellt. Wenn Sie sich selbst beruhigt haben, wird auch Ihr Kind sich beruhigen. Gehen Sie auf die Gefühle Ihres Kindes ein, ohne irgendeine seiner Reaktionen zu bewerten oder zu verbieten. Sagen Sie nicht zu ihm, du darfst nicht weinen, wenn es traurig ist, wütend, ängstlich oder wenn es Schmerzen hat. Unterstützen Sie im Gegenteil, dass es seine Gefühle wahrnimmt und ausdrücken kann. Trauma ist die gefährliche „Schnittstelle“, an der eine Aufspaltung von Verstand und Gefühl, von Körper und Geist oder von Teilen unseres eigenen Selbst geschieht. Die „schlimmen Teile“ des Körpers oder die „schlimmen Gefühle“ gehören irgendwann einfach nicht mehr dazu, sie werden fremd. Diese „Aufspaltung“ können Sie verhindern und ein einheitliches Selbsterleben Ihres Kindes unterstützten, wenn Sie auf seine Gefühle eingehen, auf sein körperliches Erleben, zum Beispiel fragen, wie sich das „Bäuchlein jetzt fühlt“, nach einer Bruchoperation. Alles was Aufmerksamkeit durch die Erwachsenen erfährt, bleibt auch für das Kind lebendig und „zugehörig“. Und unternehmen Sie alles, was die Eigeninitiative Ihres Kindes und seinen aktiven Umgang mit Situationen stärkt, denen es vorher nur passiv ausgeliefert war.
In seinem „traumatischen Spiel“ spielt ein Kind, das von einem Auto angefahren wurde, mit seinen Puppen und Spielfiguren immer wieder die gleiche Szene. Darin überquert ein Kind die Strasse, ein Auto kommt daher und überfährt das Kind. Das Kind kommt ins Krankenhaus und stirbt dort.
Stören Sie Ihr Kind nicht, wenn Sie solche Szenen beobachten, unterbrechen Sie es nicht. Wenn Sie gut für es sorgen, es unterstützen und es Ihre Nähe und Fürsorge spüren lassen, kommt bei Durchgang einhundertundeins durch das „traumatische Spiel“ vielleicht eine kleine Änderung vor. Das vom Auto überfahrene Puppenkind überlebt im Krankenhaus oder es kann sich retten, indem es im letzten Augenblick zur Seite springt. Trauma ist eine unterbrochene Handlung, eine Kampf- oder Fluchtreaktion. Jetzt nimmt das Kind diese unterbrochene Handlung wieder auf und führt sie zu einem glücklicheren Ausgang. Wie in dem vorbereitenden Puppenspiel, zum Beispiel auf eine Operation, übernimmt Ihr Kind jetzt eine aktive Rolle.
Anders als wenn Sie Ihr Kind spielerisch auf eine Operation oder eine Trennung vorbereiten, ist es nach einem traumatischen Erlebnis nicht sinnvoll, dem Kind eine glücklichere Wendung der belastenden Szene vorzuspielen oder es dazu anzuregen. Sie würden dann lediglich „Symptome“ verändern, nicht das Trauma selbst. Die Möglichkeit, seine traumatische Erfahrung auszudrücken, ginge dem Kind dann sogar verloren. Denn das Trauma ist ja nicht im Spiel entstanden, sondern im wirklichen Leben. Wenn Sie dazu beitragen, dass Ihr Kind im Leben zu seiner Aktivität, zu seinem eigenen Rhythmus zurückfinden kann, bekommt es Hoffnung, auch die traumatische Erfahrung irgendwann bewältigen zu können. In seinen Phantasien, in Träumen oder auch im Spiel probiert Ihr Kind dann vorsichtige „Lösungen“ aus, die es irgendwann schließlich auch in seinem Leben verwirklichen wird.
Hinweis: In dem Informationsbuch Neue Wege aus dem Trauma schließt sich an dieser Stelle ein Abschnitt über Hilfsmöglichkeiten bei sexuellem Kindesmissbrauch an. Wir haben den Abschnitt hier nicht aufgenommen, da gründlichere Kenntnisse über Psychotraumatologie vorausgesetzt sind, die in diesem Abriss zur persönlichen „ersten Hilfe“ nicht hinreichend vermittelt werden können.
Weitere Informationen zu diesem Thema erhalten Sie unter folgendem Link: Starke Kids